Erste Erfahrungen mit Mathematica 3.0

Wolfgang Husinsky
Institut für Allgemeine Physik, Technische Universität Wien

„Gerade rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft wurde die neue Mathematica Version 3.0 ausgeliefert.“ Diese für ein Computerprogramm etwas eigentümlich anmutende Formulierung scheint aber angesichts der geschickten Vermarktung von Mathematica durchaus angebracht. Das „Drum-Herum“-Szenario mutet fast wie bei einer neuen Großproduktion aus einem der bekannten Hollywoodstudios an. Das Mathematica-Erlebnis wird erst vollständig, besitzt man auch das entsprechende T-Shirt, das passende Kaffeehäferl und natürlich das Großformat-Poster.

Trotz dieses – vielleicht nur noch von Microsoft und seinen tempelartigen Präsentationshallen mit ausreichend Weihrauch auf diversen Messen übertroffen – etwas allzu amerikanisch anmutenden Multimedia-Spektakels, kann man jedoch als Anwender feststellen: Die neue Version 3.0 stellt sicherlich einen neuen Meilenstein in der Geschichte des Programms dar. Eigentlich sollte man ja gar nicht den simplen Ausdruck „Programm“ verwenden – die geeignete, selbstbewußte Formulierung liefert uns das Handbuch zu Mathematica am Beginn selbst: „Mathematica is the world’s only fully integrated environment for technical computing“.

Abb. 1: Aus dem mitgeliefertenHandbuch bzw. der CD-ROM: Mathematica sprengt die Grenzeeines „gewöhnlichen“Computerprogramms

Eine auch nur annähernd umfassende Besprechung eines derartigen Software-Produktes ist natürlich nicht möglich, da jeder Anwender sicherlich nur einen relativ kleinen Teil des Programmes nutzen wird. Es können daher an dieser Stelle nur einige erste – sicherlich einseitige – Eindrücke geschildert werden. Da jedoch die meisten Interessierten sicherlich schon mit Mathematica in früheren Versionen gearbeitet haben und daher mit den jeweils für sie notwendigen Stärken und auch Schwächen des Programms vertraut sein werden, möchte ich mich hier vor allem auf die entscheidende neue Eigenschaft von Mathematica 3.0 konzentrieren:

Endlich haben wir ein Werkzeug zur Verfügung, das uns erlaubt, „Mathematik“ und Berechnungen so durchzuführen, wie wir es eigentlich gewöhnt sind und in den meisten Fällen auch tun wollen.

Das neue Mathematica FrontEnd ist nun wirklich eine Mathematik-gerechte Umgebung. Formeln und mathematische Ausdrücke können so ein- und ausgegeben werden, wie es unseren Vorstellungen entspricht. Es wird aber niemand dazu gezwungen, Mathematica läßt jedem die freie Wahl, auch die alte, von früheren Versionen vertraute Eingabeform zu wählen. Dazu kann jede Zelle in der

angezeigt werden. Die letztere entspricht am besten der gewohnten mathematischen Notation, ist jedoch nur bedingt zum Rechnen in Mathematica geeignet. Sie eignet sich jedoch sehr gut zum Export in Berichte etc. Endlich ist es auch möglich, griechische Buchstaben sowie gewisse Sonderzeichen in den Berechnungen zu verwenden. Mit Hilfe von Paletten, die man auch individuell erzeugen und gestalten kann, ist es einerseits möglich, die große Zahl von Symbolen (Integralzeichen, Summenzeichen etc.) sehr leicht einzugeben und zu verwenden, andererseits ermöglichen es diese Paletten (z.B. Algebraic Manipulations), Mathematica-Funktionen direkt auf einen Ausdruck anzu- wenden, wobei das Ergebnis an der ursprünglichen Stelle eingesetzt wird. Damit ist es nun erstmals wirklich komfortabel möglich, Gleichungen und Ausdrücke, auch schrittweise, umzuformen und zu dokumentieren. Dies wird auch durch die neuen Möglichkeiten, ganze Notebooks in TEX- oder HTML-Format auszugeben, erleichtert.

Als Beispiel diene die Umformung einer einfachen Formel (Abb. 2). Mit Hilfe der hier gezeigten Palette (es ist möglich, sich praktisch jede Funktion in eine Palette einzubauen) können die einzelnen Teile der Formel oder Gleichung durch Selektieren und Anklicken der Funktion in der Palette umgeformt werden. Ein recht hilfreicher neuer Befehl ist dabei auch FullSimplify[expression].

Es muß jedoch erwähnt werden, daß das „integrated environment for technical computing“ nicht gerade sparsam umgeht, was Festplatten-Platz und Memory betrifft. Etwa 60 MB werden auf einem PowerMac benötigt, wobei zwar die sehr ausführlichen Helpfiles inkludiert sind, jedoch nicht die sonstige Dokumentation.

Abb. 2

Die Helpfunktion ist nun wirklich komfortabel und extrem hilfreich. Für die Standardfunktionen und Add-Ons bietet sie praktisch alles an, was für deren Verwendung notwendig ist (Abb. 3). Durch die Anwahl der gewünschten Themen werden entsprechende Mathematica Notebooks im unteren Teil des Help-Fensters geöffnet, die gegebenenfalls ein Experimentieren mit den Funktionen ermöglichen (siehe auch Abb. 4).

Abb. 3: Die komfortable Helpfunktion von Mathematica.

Erwähnenswert wäre auch, daß die Übersichtlichkeit über die einzelnen „Programm-Teile gegenüber früheren Versionen wesentlich besser ist. Die einzelnen Ordner im Mathematica-Ordner (AddOns, Configuration, Documentation, Executables, SystemFiles) sprechen für sich.  An sich kann man die meisten Programmteile auch von der CD-ROM starten, die Geschwindigkeit leidet aber stark darunter. Große Teile der Dokumentaion sind so aber – ohne große Geschwindigkeitsverluste – jederzeit zugänglich, ohne wer-vollen Festplattenspeicherplatz zu verschwenden. Auch der benötigte RAM Speicherbedarf ist ansehnlich: 10-20 MB für das FrontEnd und 15-20 MB für den Kernel sind sicherlich eine praktikable Konfiguration.

Abb. 4: Eine sogenannte „Tour of Mathematica“ ist direkt in die Help Funktion integriert.

Die Umwandlung von Notebooks, die mit früheren Versionen erstellt wurden, funktioniert gut. Vorsicht ist bei langen Dokumenten mit einer größeren Anzahl von Graphiken geboten. Die Rechengeschwindigkeit (zumindest was den Mac Kernel betrifft) scheint im Mittel um einige Prozent höher als bei der Vorgängerversion 2.2.2 zu sein.

Die große Umfang an Funktionen und Packages wurde noch erweitert. Eine der besonderen Stärken von Mathematica bleiben dabei natürlich weiters die vielfältigen Möglichkeiten der Visualisierung, wie in Abbildung 4 an Hand des entsprechenden Unterkapitels in der in die Help Funktion integrierten „Tour of Mathematica“ gezeigt.

Während in der Betaversion, die mir einige Monate zum Testen zur Verfügung stand, noch einige Features (vor allem Export-Options) nicht vorhanden waren bzw. Schwächen aufwiesen, sind diese nun weitgehendst beseitigt.

Schließlich möchte ich noch eine Bemerkung zur Möglichkeit, Audiofiles einzulesen bzw. zu bearbeiten, anbringen. Unter Verwendung eines eigenen Packages und der Standardaudiofunk-tionen können prinzipiell verschiedene Audiofiletypen (z. B. Audio AIF) eingelesen werden. So wünschenswert manchmal eine Bearbeitung (z.B. Fourier-Analyse) solcher Files wäre, ist nicht ganz verständlich, wie dies in sinnvoller Weise möglich sein soll: Ein einige Sekunden langes Stereo Audio File sprengt jeden praktikablen Rahmen von Speicherbedarf und Rechenzeit.

Trotz einiger, oft schon bekannter Mängel kann gesagt werden, daß Mathematica 3.0 sicher zu den faszinierendsten Computerprogrammen zu zählen ist, die es für Naturwissenschafter gibt.


Zum Inhaltsverzeichnis, Pipeline 21, Februar 1997